Was ist "illiberale Demokratie"?

Seit einigen Jahren geistert der Begriff „illiberale Demokratie“ durch die politischen Debatten. Kerngedanke ist die Trennung von Liberalismus und Demokratie. Doch welches politische Ziel verbirgt sich hinter der Nutzung des Begriffs?

Ein Schlagwort macht Karriere

Den Großteil des Jahres ist die Kleinstadt Băile Tușnad (Tusnádfürdő) im rumänischen Siebenbürgen bloß ein Kurort, in dem eine große ungarische Minderheit lebt. Doch seit einiger Zeit gewinnt das transsilvanische Städtchen einmal im Jahr europapolitische Bedeutung, denn hier findet die Sommerakademie der Fidesz statt, der ungarischen Regierungspartei. Hier stellte Ungarns Ministerpräsident und Fidesz-Vorsitzender Viktor Orbán im Juli 2014 das erste Mal sein Konzept der „illiberalen Demokratie“ vor.

In Orbáns damaliger Rede von 2014 kam der Begriff „illiberal“ zwar nur drei Mal vor, auch sprach Orbán damals noch nicht von „illiberaler Demokratie”, sondern vom illiberalen Staat. Gemeint war aber das gleiche. Seit dieser Rede wird der Begriff diskutiert und auf Staaten angewandt, die sich von liberalen Prinzipien verabschieden. Eine der zentralen Aussagen Orbáns war diese:

„Nur weil ein Staat nicht liberal ist, kann er immer noch eine Demokratie sein.“

Auf der diesjährigen Sommerakademie wiederholte Orbán diese Aussage. Kann es also sein, dass eine Demokratie ohne das Einhalten gewisser liberaler Prinzipien funktionieren kann? Oder ist die „illiberale Demokratie” bloß Augenwischerei?

Eine Aufnahme von Orbáns damaliger Rede:

Liberalismus und Demokratie: eine Symbiose

Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich zunächst einmal vor Augen halten, was die zentrale Idee des politischen Liberalismus ist: der Individualismus. Jedem Menschen sollte die größtmögliche individuelle Freiheit zukommen – wohlgemerkt größtmögliche, nicht grenzenlose Freiheit. In der Theorie endet die Ausübung der eigenen Freiheitsrechte da, wo die Freiheitsrechte des oder der anderen beginnen. Das bedeutet für die Praxis, dass die Rechte gewisser Minderheiten einen besonderen Schutz genießen, denn sonst würden deren Freiheitsrechte missachtet.

Die Grundidee der Demokratie ist, dass die Machthabenden vom Volk bzw. von der Bevölkerung bestimmt werden und dass diese Macht nur auf Zeit verliehen wird. Damit das gewährleistet ist, gibt es die Gewaltenteilung und Wahlen. Da der Liberalismus die Verschiedenheit der Menschen betont, bietet er eine ideale Grundlage für ein demokratisches System, in welchem unterschiedliche Sichtweisen nebeneinander bestehen sollen und dürfen. Demokratie und Liberalismus sollen sich gegenseitig stützen und bilden eine Art Symbiose. In westlichen Industrienationen wurden sie stets zusammengedacht und sind historisch eng verflochten.

Demokratisch heißt nicht immer liberal

Das war nicht immer so, Wertvorstellungen ändern sich. Ein gutes Beispiel hierfür ist der Umgang mit sexuellen Orientierungen in der Bundesrepublik: Homosexualität stand viele Jahrzehnte unter Strafe. Das war nicht liberal, aber die demokratisch gewählten Regierungen bestätigten dieses Verbot lange. Es gibt also anti- bzw. illiberale Politik. Jeder Mensch, der im politischen Sinn liberal ist, ist gemäß seiner politischen Überzeugung auch demokratisch. Aber nicht jeder Demokrat ist notwendigerweise liberal. Doch was ist dann eine „illiberale Demokratie“?

War die antike Demokratie liberal? Wohl kaum…

Eine eindeutige Definition gibt es nicht, doch die wohl einflussreichste Begriffsbestimmung der illiberalen Demokratie geht auf einen Essay des amerikanischen Journalisten Fareed Zakaria aus dem Jahr 1997 zurück. Damals häufte sich das Phänomen, dass Bevölkerungen Regierungen wählten, die anschließend Minderheitenrechte einschränkten. Zakaria unterschied daher zwischen Demokratie und Liberalismus. Nur Letzterer sehe immer einen rechtlichen Schutz von Minderheiten vor.

Eine Demokratie ist demnach per se weder liberal noch illiberal. Erst die staatliche Garantie von Persönlichkeitsrechten gibt den Ausschlag. Das Herrschaftssystem des antiken Athens bezeichnen wir heute als Demokratie, als liberal wird man es aber kaum bezeichnen können – schon allein deshalb, weil viele Bevölkerungsgruppen wie Frauen und Sklaven kein Wahlrecht hatten.

Attacken auf die Demokratie

Regierungen, die die Rechte von Minderheiten attackieren, belassen es meistens nicht dabei. Auch demokratische Grundprinzipien werden von ihnen außer Kraft gesetzt. Es kommt beispielsweise zu:

  • Einer Zentralisierung der Macht
  • Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit
  • Der Kontrolle der Medien durch den Staat
  • Dem Verbot von Nichtregierungsorganisationen

Wahlen werden in solchen Staaten nicht als Mittel der politischen Willensbildung verstanden, sondern eher als Ritual, mit dem das vermeintlich einheitliche Volk die politischen Machthaber bestätigt. Das Nebeneinander von politischen Ideen wird nicht akzeptiert.

Lesen Sie hier, wie Demokratie-Indizes funktionieren.

Die „illiberale Demokratie“ ist eigentlich eine beschädigte Demokratie

Bei der „illiberalen Demokratie“ handelt es sich also so gut wie immer um einen Etikettenschwindel, der von Staaten gewählt wird, um vor der internationalen Gemeinschaft nicht das Gesicht zu verlieren. Treffender wäre, wenn man von „angegriffenen“ oder „beschädigten“ Demokratien spräche, wie auch der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller meint. Und auch Viktor Orbán geht es nicht allein um eine konservative Politik oder Kritik am Wirtschaftsliberalismus. Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) stufte die Wahl in Ungarn von 2018 als frei, aber nicht fair ein. „Reporter ohne Grenzen“ kritisiert, Orbán und die Fidesz-Partei hätten die Medien unter ihre Kontrolle gebracht. Und 2013 schränkte die ungarische Regierung die Befugnisse des Verfassungsgerichts ein. Unter solchen Umständen kann eine Demokratie nicht funktionieren.

Erfahren Sie hier, wie POLYAS mit Online-Wahlen einen Beitrag für die Demokratie leisten möchte: