Nachgefragt… Seit über 20 Jahren sind Online-Wahlen seine Leidenschaft: POLYAS Gründer Wolfgang Jung verfolgt bis heute die Vision von der Digitalisierung der Demokratie. Ein Gespräch über die Anfänge und die Zukunft der Online-Wahl und warum Kassel als Stadt unterschätzt wird.
Wolfgang, wie kamst Du zu dem Thema Online-Wahlen?
Das begann 1996: Damals studierte ich Mathematik und war Teil einer kleinen Übungsgruppe technikinteressierter Computernerds. Ein Kollege hatte Kontakt zum Dachverband der finnischen Jugendorganisationen in Helsinki, die dort an der Umsetzung einer Wahl der unter 16- bis 18-jährigen Jugendlichen beteiligt war.
Deren bisherige Lösung, hunderte von Faxformularen zu verschicken, fanden wir nicht mehr zeitgemäß. Durch unsere langjährige Programmiererfahrung und die Möglichkeiten, die das Internet bot, schlugen wir dem Verband eine webbasierte Lösung vor. Finnland begann schon sehr früh das Internet an die Schulen zu bringen. Zur Zeit der Wahl 1996 gab es dort eine Abdeckung von etwa 75%. In Deutschland startete zu dieser Zeit das Projekt „Schulen ans Netz“ und erreichte die gleiche Abdeckung erst im Jahr 2006.
Wie lief diese erste Online-Wahl ab?
Die Wahl in Finnland war den später in Deutschland stattfinden Projekten wie „Juniorwahl“ – mit denen wir seit 1999 zusammenarbeiten – oder „U18-Wahl“ sehr ähnlich. Sie alle treibt die Frage um: „Wie können Schülerinnen und Schüler unter 18 Jahren an den politischen Prozess herangeführt werden?“. Die Parteien in Finnland nutzten diese Wahl als Stimmungsindikator für die in naher Zukunft Wahlberechtigten, inklusive Werbekampagnen, Interviews, Podiumsdiskussionen.
Wir entwickelten eine technische Lösung, die durch die Einbindung der Lehrkräfte in die Schulen skalierte: Jede Lehrkraft war für die Herausgabe der Stimmberechtigungen (ein alphanumerischer Code, der ausgedruckt und aus einer Urne gezogen wurde) verantwortlich. Mit diesen Stimmberechtigungen konnten die Schülerinnen und Schüler dann wählen.
Wie ging es dann weiter?
Nach dem Erfolg der Wahl in Finnland 1996 gab es eine Reihe anderer Wahlen, die wir mit der Micromata GmbH durchführten. Die bereits erwähnte Juniorwahl brachte uns mehr und mehr Aufmerksamkeit in Deutschland, die sich bis zum Bundesministerium des Innern fortsetzte. Wir führten von 1998 an jedes Jahr immer mehr Wahlen durch, parallel dazu arbeiteten wir an der Zertifizierung unseres Wahlsystems.
2012 hat sich POLYAS dann ausgegründet. Wie kam es zu dieser Entscheidung?
Die Micromata GmbH hat ihren Schwerpunkt im Projektgeschäft im industriellen Umfeld, der Bereich der elektronischen Wahlsysteme war lange Zeit nur ein Nebenprojekt. Das größte Problem waren die langen Vorlaufzeiten, bis Vereine oder Verbände eine Wahl dann tatsächlich online durchführen konnten. Oft mussten Satzungsänderungen erst auf herkömmlichen Weg beschlossen werden, bis die nächste Wahl dann elektronisch durchgeführt werden konnte.
Aus diesen Erfahrungen änderte sich dann unser Angebot. Wir waren nicht länger nur Techniker, die eine elektronische Wahl durchführten, sondern vielmehr Dienstleister, die die Kunden bei der Wahldurchführung beraten. Das geht von Vorschlägen für die Satzungsänderung über Informationen für die Mitglieder, die Integration von Druckdienstleistern etc.. Von da an war die Trennung vom Industriesoftwarebereich in eine eigene Gesellschaft ein logischer Schritt.
Woran arbeitest Du aktuell bei POLYAS?
Aktuell sind es Skalierungsthemen: Wir wickeln derzeit täglich so viele Wahlen ab, wie wir früher pro Jahr durchführten. Dafür benötigen wir entsprechende Werkzeuge, die die einzelnen Aspekte einer Wahl abbilden und unabhängig von den laufenden Wahlen erweitert und aktualisiert werden können.
Wir arbeiten derzeit daran, neue Wahlsysteme, die eine bessere Verifizierbarkeit durch den Wahlvorstand und durch die Wahlberechtigten erlauben, in die bestehende Infrastruktur zu integrieren.
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Was sind die größten Herausforderungen bei deiner Arbeit zu Online-Wahlen?
Das Vertrauen in die technischen Systeme herzustellen. Gerade in Zeiten von Cryptotrojanern, Spectre, NSA und unsicheren Betriebssystemen ist das schwer. Aber auch darin liegt eine große Chance: Bislang ging man davon aus, dass ein halbwegs sicheres Endgerät bereitgestellt werden kann. Wenn man jedoch die Protokolle so designt, dass man von einem in sich unsicheren Computer-/Eingabegerät-/Netzwe
Die größte Schwierigkeit besteht darin, die dahinter liegenden mathematischen Modelle jemanden zu vermitteln, der kein Expertenwissen in dem Bereich hat.
Wolfgang, Du lebst ja in Kassel. Das Entwicklerteam von POLYAS sitzt da auch, wie kam es dazu? Was sind die Vorteile?
Durch die Ausgründung aus der Micromata GmbH waren viele der MitarbeiterInnen zuvor schon in Kassel. Kassel liegt zentral, hat eine beliebte Universität und wird als Stadt oft unterschätzt. Es gibt hier die documenta, eine spannende Kunstszene im Umfeld der Kunsthochschule, das Dokumentarfilmfest, den flipdot Hackerspace, die Java User Group Hessen; zudem gutes Essen und die Natur direkt vor der Haustür.
Was wünschst Du dir für die Zukunft, was Online-Wahlen angeht?
Eine Bereitschaft, sich auf solide Mathematik und gute Argumente einzulassen. Es ist klar, dass bei einer universellen und individuellen Verifizierbarkeit der Stimmabgabe eine höhere Sicherheit gegeben ist als bei einer Briefwahl.
Dafür wäre es wünschenswert, wenn es eine einheitliche Authentifizierungs-/Signaturmöglichkeit gäbe. Das ist zum Beispiel in Estland der Fall, wo dies über den Ausweis abbildbar ist. Leider ist die ursprünglich angedachte Signaturmöglichkeit über den Personalausweis nach dem Ausstieg der Bundesdruckerei im Jahre 2017 nicht mehr aktivierbar, aber auch dafür sind Alternativen in Sicht.